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Minimalkonsens und Grundgesetz

Ich möchte nun im folgenden zeigen, dass ein lebensweltliches Verständnis des Kerngehalts des Grundgesetzes, eines, das also über den im engen Sinne staatsrechtlichen Gehalt hinausgeht, bereits wichtige, ja zentrale Antworten gibt dazu, welche Haltungen und Handlungen von uns erwartet werden, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft voranzubringen. Das wird noch umso deutlicher, je klarer wir die historisch-kulturellen Wurzeln sehen, die das Grundgesetz speisen: Griechische und jüdisch-christliche Tradition, Humanismus, Aufklärung, Individualismus, Volksherrschaft.

Menschliches Zusammenleben wird danach nicht mehr aus der strikten Befolgung irgendwie geoffenbarter Wahrheiten und Forderungen ermöglicht, sondern dadurch, dass die Menschen ihre Probleme und Konflikte selbst identifizieren und in Machtauseinandersetzungen und/oder Kompromissen zu klären versuchen. Wenn Macht im Spiel ist, dann aber begründete Macht, was Legitimationsprozesse nötig macht. Diese wiederum hängen von Kommunikationsprozessen ab, die an der Idee der Wahrheit orientiert sein müssen, sollen sie überzeugend und nicht manipulativ wirken.

Dass dieses miteinander Kommunizieren wirklich auch so stattfinden kann, dass sich Wahrheit im Dialog ereignet, ist jedoch durchaus voraussetzungsvoll. In einer säkularen Welt können diese Voraussetzungen, wie erwähnt, nicht als Ergebnisse etwa einer göttlichen Offenbarung gesehen werden, sondern nur in einem Konsens der Menschen untereinander, der nicht mehr infrage zu stellen ist. Wir stimmen überein – we agree. Worin stimmen wir überein: to disagree. Jedoch ist dieses vorgängige Agreement seinerseits an Voraussetzungen gebunden: Von einem tatsächlichen Übereinstimmen kann nur dann zu Recht die Rede sein, wenn die Übereinstimmenden nicht gezwungen werden, sondern dies freiwillig tun, in eigener Überzeugung und unter prinzipiell Gleichen. Diese Voraussetzungen sind normalerweise nicht einfach gegeben, sondern sie müssen garantiert, d.h. geschützt sein. Für diese Voraussetzungen hat das Grundgesetz kurze, aber wirksame Formulierungen gefunden. Art. 1 GG sagt in aller Kürze das Wesentliche auf der gesellschaftlichen und staatlichen Ebene: Menschenwürde und die Verpflichtung an den Staat, diese zu achten und zu schützen. Dazu das Bekenntnis des Deutschen Volkes „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1,Abs.2GG). Art.20 GG sagt, was dazu staatlicherseits nötig ist: Demokratie, Rechtsstaat, Republik und Sozialstaat. Diese beiden Artikel sind trotz bzw. in ihrer Kürze inhaltsschwer – und im übrigen sind sie (nach Art.79,Abs.3GG) in ihren Grundsätzen unveränderbar.

Es ist nun gegen diese Art von Betrachtung des Beitrags des Grundgesetzes zum Konsens immer wieder eingewandt worden, dass das Sich-Abstützen auf den bloßen Rechtsregeln des Grundgesetzes zu kognitiv ausgerichtet und zu wenig die menschlichen Emotionen anspreche. Eine solche Haltung, auch von manchen als Verfassungspatriotismus18 bezeichnet, sei zu wenig, um tatsächlich Einigung, Konsens, Identität herzustellen. Es bedürfe dazu weiterer Normen, die handlungsleitend seien. Dem ist einerseits zuzustimmen, andererseits ist zu fragen, welche Handlungen und Normen in Frage kommen sollten. Kann darüber Einigung erzielt werden? Mir scheint nun, dass aus dem Grundgesetz selbst ein Minimalkonsens herausgezogen werden kann – und der heißt etwa wie folgt:

Ein Staat mit diesen ihn verpflichtenden Merkmalen hilft den Menschen, wenn sie in unverschuldeter Not und Benachteiligung gegenüber anderen sind, was die Gleichheit tangieren würde; er behandelt die Menschen bei Konflikten prinzipiell gleich und achtet ihre unantastbare Würde; gleichzeitig gibt er den Menschen die Möglichkeit und fördert ihre Fähigkeit, an den gemeinsamen Aufgaben und Konfliktregelungen mitzuarbeiten.

Dazu sind auf der Ebene der Individuen mindestens folgende Haltungen nötig: Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Fairness im Umgang miteinander, „Etablierung einer Kultur des Zuhörens“19, Achtung gegenüber den Mitmenschen, die sich durchaus auch in menschlicher Zuverlässigkeit bis hin zur Pünktlichkeit zeigen kann, und natürlich Mitmenschlichkeit einschließt. Wie man sieht, sind wir ganz nahe an der berühmten Trias der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Solidarität.

Aber sind das nicht bloße Schlagworte, die inzwischen fast alles, also eigentlich nichts bedeuten?

Mir scheint, dass sie uns immer noch Wegweiser sein können – und wenn es nur so wäre, dass sie uns zeigen, wohin der Weg nicht gehen darf. Solche Wegweiser, auch „regulative Ideen“ genannt, sind Begriffe wie z.B. Wahrheit. Was Lüge bzw. Unwahrheit ist, ist im Alltag wesentlich klarer zu sehen als was „Wahrheit“ meint. Wie eine menschliche Gemeinschaft in Freiheit nachhaltige Identität entwickelt, wird immer – auch – umstritten sein. Wie demgegenüber eine solche Gemeinschaft zu einer nur manipulativen und letztlich erzwungenen, insofern aber niemals nachhaltigen Einheit gebracht werden kann, wissen wir hingegen recht gut. Schon die Römer kannten das dafür nötige Prinzip: „Divide et impera! Teile und herrsche!“ Näher aufgeschlüsselt heißt dies: ‚Verhindere, dass die Menschen vertrauensvoll sich miteinander verbinden, und du kannst sie beherrschen! Lass also die Menschen nicht miteinander in vertrauensvolle Kommunikation kommen; bespitzele sie deshalb; fördere Denunziation; agiere mit Verdrehung und Lüge; schaffe ungleiche Positionen; gib keinen Einblick in deine Absichten und sei unberechenbar!’ Eine derartig erzwungene Gemeinschaftsbildung bedarf aber – auch das wussten schon die alten Römer – der ständigen Kontrolle und Überwachung, soll sie nicht sofort auseinanderbrechen. Doch dann tauchen sofort nächste Schwierigkeiten auf, die wiederum die Römer bereits in die klassische Endlos-Frage kleideten: Quis custodiet custodem? Und wer bewacht den Bewacher?

Infragestellungen des Konsenses

Gehen wir jetzt aber wieder auf den positiven Weg zurück: Es geht also immer darum, Vertrauen in der Gemeinschaft aufzubauen und dem einzelnen das sichere Gefühl zu geben, in diesem Vertrauen zu stehen und daraus auch das für einen selbständigen Menschen nötige Selbstvertrauen zu gewinnen. Der bekannte amerikanische Sozialwissenschaftler Robert D. Putnam hat dafür den Begriff „Sozialkapital“ übernommen und meint damit: Vorhandensein und Pflege gemeinsamer Netzwerke, generalisiertes Vertrauen, geteilte Werte20.

Betrachten wir in einem kurzen Seitenblick, wie es in Deutschland mit diesem Sozialkapital aussieht, so müssen wir in den letzten Jahren einige Einbußen an diesem Kapital konstatieren. So hat sich in den letzten 20 Jahren das Vertrauen der Bevölkerung in die wichtigsten Institutionen tendenziell bis etwa Mitte der 90er Jahre leicht verringert, wobei es die genuin politischen Institutionen wie Bundestag und Bundesregierung mehr als die anderen getroffen hat21. Deutliche Unterschiede gibt es nach wie vor zwischen der ost- und der westdeutschen Bevölkerung, wobei die Ostdeutschen natürlich sehr viel weniger Zeit bis heute hatten, Vertrauen überhaupt erst aufzubauen. Stolz auf das eigene Land und seine Institutionen sowie Vertrauen in sie brauchten nach dem Krieg auch in Westdeutschland viele Jahre, um dann allerdings teilweise Spitzenwerte in Europa zu erreichen. Jüngste ernstzunehmende Umfragen zeigen, dass nur noch 71% statt vor fünf Jahren 80% in Westdeutschland und 38% gegenüber 49% in Ostdeutschland „die Demokratie in Deutschland“ für „die beste Staatsform“ halten22. Damit korrespondiert, dass in den letzten zwei Jahrzehnten „der Grad politischer Integration… deutlich zurückgegangen ist“23. Für Ostdeutschland insbesondere, aber auch für die westdeutsche Bevölkerung gilt dabei, dass für die Identifikation mit dem politischen und gesellschaftlichen System und für seine Unterstützung „die allgemeine wirtschaftliche Lage, das Gefühl von Gerechtigkeit und relativer Deprivation sowie die Erfahrung sozialer Anerkennung und Integration“24 entscheidend sind. Insofern warnt Detlef Pollack zu Recht davor, „die Befürwortung der bundesrepublikanischen Ordnung durch Aufklärungs- und Erziehungsmaßnahmen vorantreiben zu wollen“25. Bei den gemeinsamen Netzwerken stellen wir in Deutschland fest, dass zwar nicht-politische Vereine, wie Sportvereine, nach wie vor eher wachsen, die politischen Vereine, Parteien, Gewerkschaften, aber auch die religiösen Milieus kräftig schrumpfen. Immer bedeutsamer wird darüber hinaus, dass gerade in bildungsfernen Schichten Kinder immer stärker vereinzeln, wenn sie vor den Fernseher und zu Computerspielen abgeschoben werden. Die gegenwärtigen Diskussionen über die Zunahme von Armut in Deutschland bzw. über das sog. Prekariat und ihre Auswirkung auf den Zusammenhalt der Gesellschaft sind ein neuerlicher Beleg für die Unsicherheiten, die viele Menschen ergriffen haben und ihnen sowohl Selbstvertrauen als auch Vertrauen in ihre Umgebung abhanden kommen lassen.

An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass aus diesem privaten wie öffentlichen Vertrauensverlust alle diejenigen Honig saugen, denen eine pluralistische freiheitliche Demokratie ohnehin zuwider ist. Hier ist in erster Linie an das rechtsextreme „Lager“ zu denken, für das das Grundgesetz eine politische Verirrung darstellt, von den westlichen Alliierten aufoktroyiert und insgesamt einem Denken verhaftet sei, das von einem völlig falschen, nämlich positiven Menschenbild ausgehe. Für rechtsradikales Denken kann deutsche Identität niemals Ergebnis letztlich freier Zugehörigkeitsentscheidung, also „tägliches Plebiszit“ (Renan) sein, sondern wird als absolutes Erfordernis angesehen, das gegebenenfalls auch per Zwang einzuholen ist, wenn anders kollektive Homogenität nicht herzustellen ist. In diesem Denken lebt Identität nicht vom Einschluss von der Würde her gleicher und doch je individuell unterschiedlicher Menschen, sondern von der Vorstellung eines ethnisch-kulturellen homogenen Volkskörpers, der sich durch Ausgrenzung des „Andersartigen“ zu einer Einheit formen muss. Dazu sei ein autoritärer Staat am besten geeignet, der dem Schutzbedürfnis des Einzelnen durch harte Hand entgegenkomme: Protego, ergo obligo – ich schütze dich (sagt der Staat zum einzelnen), also verpflichte ich dich mir26. Im kollektivistisch-autoritären Fall kann man erwarten, dass die Frage nach der kollektiven Identität kein Dauerstreit sein wird. Die Führung gibt die Richtung vor, die Gefolgschaft hat sich ohne Murren zu fügen. Wenngleich gegenwärtig in Deutschland nicht zu erwarten ist, dass sich politisch eine autoritäre Führerschaft etablieren könnte, gibt es genügend Anlass für den Hinweis, dass die Grundfesten der republikanischen Ordnung gegen Erosion geschützt werden müssen. Es wird zwar im rechten Lager nur von wenigen direkt zum Sturm gegen das Grundgesetz und seine politische Ordnung aufgerufen27, vielmehr wird das Grundgesetz dort – aber leider auch über den im engeren rechtsextremen Bereich hinaus – als ein zwar sympathisches, aber letztlich völlig idealistisches und lebensfremdes Dokument angesehen, das einem auf ein „realistisches“ Freund-Feind-Denken hinorientierenden Grundkonsens Stück für Stück zu weichen habe. Es liegt auf der Hand, dass von den bundesrepublikanischen Institutionen enttäuschte Menschen solche Gedanken, die ihnen als Deutschen (vermeintliche) Sicherheit geben, unterstützen werden. Nicht nur die Wahlergebnisse der rechtsextremen Parteien in den letzten Landtagswahlen, insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, lassen hier aufhorchen. Und gerade in diesen Tagen wird über eine Studie in den Medien28 berichtet, derzufolge rechtsradikales Freund-Feind-Denken, Rassismus und Antisemitismus durchaus – über einen rechten Rand hinaus – in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen. Es zeigen sich also immer wieder auch Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft, die ein klammheimliches Sich-Entfernen vom Grundkonsens des Grundgesetzes signalisieren: So wurde erst vor wenigen Tagen ein Teil des 1993 in Kraft getretenen Asylbewerberleistungsgesetzes vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt, weil es gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes zulasten von Asylbewerbern verstößt.29 Zur selben Zeit (damals 1992ff) wollten die beiden großen deutschen Parteien Asylbewerbern die unmittelbar aus Art.1GG herzuleitende Rechtswegegarantie nach Art.19,Abs.4 streichen, wovon sie nach einem geharnischten Spiegel-Interview des damaligen Bundesverfassungsrichters Herbert Kühling dann doch abließen30. Weitere ähnliche Beispiele im Zusammenhang mit den deutschen Sicherheitsgesetzen sind nur zu bekannt. Als ein weiteres jüngeres Beispiel sei hier noch auf den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann verwiesen, der ja in seiner Rede nicht nur den Topos der Juden als Störenfriede deutscher Selbstfindung und Befindlichkeit in verquerer Sprache bediente, sondern unumwunden den Gleichheitsgrundsatz nach Art.3GG in Frage stellte und die selbstverständliche Bevorzugung der Deutschen in Deutschland anmahnte. Ich fand es erstaunlich, ja beschämend, dass diese Passage seiner als antisemitisch inkriminierten Rede in der veröffentlichten Meinung keinerlei Erwähnung fand. Sind wir mittlerweile schon so weit, dass uns eine solche gravierende Abweichung vom Geist des Grundgesetzes nicht mehr stört? Dabei verwundert nicht, dass gerade diejenigen, die offenbar an einer Relativierung der Kerninhalte des Grundgesetzes interessiert sind, oft diejenigen sind, die am lautesten eine deutsche Leitkultur als einziges und bestes Mittel für die deutsche Identitätsfindung propagieren.

Politische Partizipation als Bekräftigung des Konsenses

Wenn schon nicht die rechtsradikalen und auch nicht jene Identitätsvorstellungen zur praktischen Leitidee für Identitätsbildung herangezogen werden können, die angesichts vielfältiger Bedrohungen eine Identität gründen wollen im gemeinsamen Schutzbedürfnis, das der Freiheit nun einmal enge Grenzen setzen müsse (so äußerte der ehemalige Berliner CDU-Innensenator Heinrich Lummer vor kurzem in der neurechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“, dass man „besser eine Diktatur als gar keinen Staat“31 habe), dann stellt sich zum Schluss die Frage, welchen Weg eine Identitätsbildung praktisch einschlagen solle, der vom Kern des Grundgesetzes als einem immer wieder zu erringenden Konsens ausgeht und dabei im strittigen Sektor doch zu verbindlichen Entscheidungen kommen will – und dies genau zu einer Zeit, da Politik immer weniger Menschen zu interessieren scheint und die Politiker immer stärker mit Vertrauensschwund zu kämpfen haben.

Meine eigenen Erfahrungen aus einer Reihe praktischer Projekte in den letzten 15 Jahren32, aber auch ähnliche Befunde von Kollegen zeigen mir, dass wir ein ganz zentrales Potential für gemeinschaftliche Identitätsbildung nach wie vor sträflich vernachlässigen. Ich meine damit die Beteiligung der Bevölkerung an der Bewältigung der ihnen naheliegenden Probleme in ihrer Eigenschaft als Experten ihrer eigenen Lebenswelt. Hier können die Regeln, die wir vorhin aus dem „unstreitigen Sektor“ hergeleitet haben, in der alltäglichen Praxis Leben und Farbe gewinnen. Im streitigen Sektor miteinander – in Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit – zu diskutieren, sich gegenseitig zu kritisieren, sich zu überzeugen versuchen, Kompromisse zu schließen, auch Niederlagen einzustecken, trägt mehr zu einem Zugehörigkeitsgefühl bei als alles Anpreisen selbst sonst unbestrittener Vorzüge der deutschen Kultur usw. Wenn Menschen im Vollzug von Partizipation merken, dass ihre Meinung und Stimme gefragt ist, dass sie ernstgenommen werden, dass man ihnen zuhört, wenn sie auch anderen zuhören, dass sie etwas bewegen können, auch wenn die meisten der heute drängenden Probleme kompliziert und auf verschiedenen Entscheidungsebenen angesiedelt sind, dann zeigen sie auch zunehmend Toleranz, Geduld und auch große Lernbereitschaft, um zu möglichst sachgerechten Konfliktlösungen zu kommen. Aber, um es noch einmal zu betonen, schon in einem auf den Basistugenden des Grundgesetzes aufruhenden Konfliktmanagement in öffentlichen Angelegenheiten liegt ein ungeheures, bislang leider viel zu wenig gepflegtes soziales Kapital.

Eines meiner Projekte, nämlich das hauptsächlich mit Hamburger Schülern durchgeführte, das über etwa fünf Jahre ging, bestätigte mich weitestgehend in meiner damaligen Ausgangshypothese, dass junge Menschen, die effizient und effektiv33 an der Lösung ihrer Probleme beteiligt worden sind, „rettungslos für den Rechtsextremismus verloren“ sind. Auch in den anderen Beteiligungsprojekten zeigte sich – bei allen Schwierigkeiten im Detail – , dass Menschen, die über – ich wiederhole noch einmal – effiziente und effektive Teilnahmemöglichkeiten sich um öffentliche Belange kümmern konnten, plötzlich die Bundesrepublik, nunmehr „ihre“ Bundesrepublik, mit ganz anderen Augen ansahen.

Schlussbemerkungen

Deutsche Identität – ein Streit ohne Ende? Ja! Aber hoffentlich unter den Bedingungen, die Jutta Limbach wie folgt formuliert hat: „Die Frage, was unsere Gesellschaft zusammenhält, stellt sich für jede Generation neu. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und der technologische Fortschritt konfrontieren die Welt unablässig mit neuen Problemen. Der dadurch herausgeforderte Wandel des gesellschaftlichen Denkens bewirkt, dass die Kultur immer wieder neue Gestalt annimmt. Wir werden daher keine für alle Zeiten aussagekräftigen Maßstäbe dafür finden, was gut oder böse, menschenwürdig oder –unwürdig ist.“34 Sie zitiert sodann den Philosophen Josef Pieper, um sich gegen einen ungebändigten Relativismus abzusetzen: „Der natürliche Ort der Wahrheit ist das Miteinanderreden der Menschen; Wahrheit ereignet sich im Dialog.“ Diesen Dialog miteinander nach den Grundsätzen unserer Verfassung zu gestalten, ist der Mühe aller derer wert, die eine humane deutsche und europäische Identitätsfindung auf Dauer voranbringen wollen. Wolf Lepenies, der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat in seiner Dankesrede formuliert: „Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn sie nicht routiniert betrieben oder anderen mit Gewalt aufgezwungen, sondern mit Enthusiasmus gelebt wird.“ (SZ v. 9.10.06) Unser Verfassungskonsens hat diesen Enthusiasmus und unser aller Pflege verdient!35

18 Dass hier nicht der Begriff von Dolf Sternberger und auch nicht der von Jürgen Habermas im Kern getroffen wird, kann hier nicht weiter analysiert werden. Vgl. dazu aber neuestens Kronenberg, Volker: a.a.O.

19 Vgl. zu diesen Kriterien u.a. Feindt, Peter: Regierung durch Diskussion? Frankfurt a.M. u.a. 2001, S.533ff

20 Vgl. Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, 1993

21 Vgl. dazu z.B. Niedermayer, Oskar: Bürger und Politik. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen, Wiesbaden 22005

22 S. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 2006, Bonn 2006, S.644

23 a.a.O., S. 643

24 Siehe Pollack, Detlef: Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands bestellt?, in: APuZ 30-31/2006 (v. 24.7.2006), S.3-7, S.7; vgl. auch die Tab. Politisches Vertrauen in Deutschland und Europa, 2002-2004, in: Gabriel, Oscar W./Zmerli, Sonja: Politisches Vertrauen: Deutschland in Europa, in: APuZ 30-31/2006 (v. 24.7.2006), S.8-15, S.11, wo sich zeigt, dass Deutschland insgesamt und Ostdeutschland ganz besonders längst nicht mehr im europäischen Spitzenbereich rangieren.

25 Pollack, a.a.O., S.7; insofern dürften Zweifel angebracht sein, ob die Rückbesinnung auf alte bürgerliche Werte, die der Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005, ins Gespräch gebracht hat, mehr als eine – sicherlich wertvolle – Ergänzung anderer Maßnahmen bedeuten kann.

26 So der wichtigste Gedankenspender im rechten Lager, Carl Schmitt (1888-1985), der schon in der Weimarer Republik gegen diese polemisierte, sich dann den Nazis andiente und in der Bundesrepublik aus seiner kompromisslosen Gegnerschaft zum Grundgesetz kein Hehl machte, dennoch aber gerade in rechtskonservativen Kreisen z.T. abgöttische Verehrung genoss und immer noch genießt. Vgl. zum obigen Zitat Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1928 (und weitere Auflagen)

27 obwohl der NPD-Vorsitzende Udo Voigt schon mal von der Abwicklung der BRD spricht, die er gerne vornehmen möchte; siehe dazu sein Interview in der neurechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“, Nr. 40/04 v. 24.9.2004, S.3

28 vgl. z.B. SZ v. 9.11.06, S.5: Rechtsextreme in allen Schichten. Rassismus in Deutschland laut Studie weit verbreitet

29 S. BVerfG 1 BvR 293/05

30 Vgl. dazu Gessenharter, Wolfgang: Kippt die Republik? München 1994, S.247ff

31 Lummer, Heinrich: Demokratie – oder was? In: Junge Freiheit (JF), Nr. 39/06 v. 22.9.2006, S. 2

32 Bürgerbeteiligungsprojekte in Buxtehude (1993/94): Zusammenleben mit Ausländern; Hamburg – St. Georg (1998/1999): Drogenprobleme am Hamburger Hauptbahnhof; Hamburg: Erweiterung der innerstädtischen Messe (2000); Hamburg Airbus (Sept./Okt. 2002); Bremen: Leitbild „Pauliner Marsch“ (2004/05); seit 1998 Schulprojekt in Hamburg: „Dialogische Selbstbeobachtung an Schulen und in ihrem sozialen Umfeld“.

33 dabei meint effizient, dass diese Beteiligungsprozesse i.S. der o.g. Kriterien ablaufen, was üblicherweise nicht ohne professionelle Leitung geschieht; effektiv heißt, dass Beteiligung Ergebnisse erzielt, die in der Realität wirklich etwas bewegen, und nicht bloß die Aktenablage eines Hilfsreferenten in der Verwaltung um einige Zentimeter erhöht. Ich habe bei meinen Projekten immer darauf Wert gelegt, dass partizipativ erarbeitete Lösungsvorschläge entweder von den verantwortlichen Stellen übernommen werden oder von diesen öffentlich begründet wird, warum sie nicht umgesetzt werden können.

34 in: Lammert, Norbert (Hrsg.): a.a.O., S.168

35 Viele Staaten, die im nation-building-process stehen, versichern sich der Unterstützung durch deutsche Verfassungsexperten, manchmal spricht man sogar vom „Exportschlager Grundgesetz“; vgl. jüngst wieder FAZ v. 30.8.06

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