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Deutschland läuft ins offene Messer

In einem Interview mit dem deutschen Magazin pfeil.gif der Spiegel machte Henry Kissinger unmissverständlich deutlich, was er beziehungsweise die USA von Deutschland erwarten: Mehr Truppen und vor allen Dingen Kampfeinsätze in Afghanistan – sterben sollen alle, nicht nur die einen. Und er spielt die Klaviatur der medialen Botschaft unverblümt: Einerseits indem er das Szenario eines weltweit an Einfluss gewinnenden radikalen Islam zeichnet und bei einem Rückzug aus dem Irak und Afghanistan auch Europa dramatische Folgen prophezeit, andererseits indem er Angela Merkel an ihre Wiederwahl erinnert.

ev. Angesprochen darauf, ob ein Rückzug aus dem Irak, wie ihn die amerikanischen Demokraten ihren Wählern versprechen, realistisch sei, differenziert Kissinger zweierlei Möglichkeiten eines Rückzuges: Meinen wir einen Rückzug als Teil einer politischen Lösung in der Region? Oder reden wir von einem Rückzug, der deshalb erfolgt, weil die Amerikaner des Krieges überdrüssig sind? Im letzteren Fall wären die Folgen katastrophal.Ganz offensichtlich an die Adresse der Europäer gerichtet, prophezeit er als Folge eines Rückzuges eine hohe Wahrscheinlichkeit blutiger Auseinandersetzungen in der Region. Der radikale Islam verschwinde nicht, wenn sich die USA zurückzögen, gäbe ihm vielmehr Auftrieb: Ein hastiger Rückzug des Westens würde in der Region als Offenbarung westlicher Impotenz verstanden werden. Hamas, Al-Kaida und Hisbollah würde unverzüglich eine dominantere Rolle für sich reklamieren. Die westliche Fähigkeit, die Geschicke dieser Region zu beeinflussen, wäre zunichte gemacht. Und dieser Virus würde alle Länder mit hohem islamischem Bevölkerungsanteil infizieren: Indonesien, Indien, große Teile Europas.


Dass die Europäer trotz solcher Szenarien nicht zur Bejahung eines Einsatzes im Irak zu bringen sind, sei darauf zurückzuführen, dass die Europäer nicht verstehen wollten, dass es sich hier nicht allein um ein amerikanisches, sondern auch um ein europäisches Problem handle, dessen Konsequenzen sich in Eu­ropa mindestens so dramatisch zeigen würden. Hellhörig machen auch seine Präzisierungen auf die Frage nach seiner Beurteilung der europäischen Haltung im Krieg gegen den Terror – ein Begriff‚ den er nicht möge: Terror ist eine Methode, gegen die man nur schwer Krieg führen kann, – um diesen Krieg dann auf Millionen von Menschen auszuweiten: Für mich ist das ein Krieg gegen den radikalen Islam, der derzeit versucht, alle seine modernen Elemente abzustreifen und die säkularen Strukturen der westlichen Gesellschaften herauszufordern. Das Ganze geschieht in einer denkbar schwierigen Phase der europäischen Geschichte.

 

Nach einer Präzisierung dieser schwierigen Phase befragt, erwidert Kissinger: Die großen Ereignisse in Europa fanden unter dem Dach starker Nationalstaaten statt, die teilweise vor mehreren hundert Jahren entstanden. Es war nie eine Frage für die europäischen Völker, dass die Nation auch Opfer von ihnen verlangen dürfe. Nun sind diese alten Nationalstaaten in der Europäischen Union aufgegangen. Die Kraft der nationalen Regierungen, ihren Bürgern etwas abzuverlangen, hat dadurch enorm gelitten. Das Problem heute ist: Die Nationalstaaten haben nicht nur Teile ihrer Souveränität auf die EU übertragen, sondern auch ihre Vision für die Zukunft eng verknüpft mit der Zukunft der Europäischen Union. Die EU aber besitzt keinen Sinn für Visionen und erzeugt nicht die gleichen Loyalitäten. Es ist ein Vakuum entstanden zwischen Europas Vergangenheit und Europas Zukunft. Kissinger scheint also zu bedauern, dass die europäischen Regierungen noch Mühe haben, von den Menschen in Europa zu verlangen, anstatt für Gott, Kaiser und Vaterland für das Friedensprojekt zum Wohle der europäischen Völker – die EU – nicht nur zu zahlen, sondern auch zu sterben. Auf die Frage, was er denn von den gewählten Regierungs- und Staatschefs erwarte, ob die deutsche Bundeskanzlerin aufstehen und die Deutschen um Opfer im Kampf gegen die Terroristen bitten solle, versetzt Kissinger: Ich glaube, dass Angela Merkel, wie andere Regierungschefs auch, an ihre Wiederwahl denken muss.

Ich habe hohen Respekt vor ihr. Andererseits kenne ich nicht viele Europäer, die sagen, ein Sieg der radikalen Islamisten in Kabul, Bagdad oder Riad hätte keine großen Konsequenzen für uns. Dennoch sind sie nicht bereit zu sagen: Dafür stehen wir, dafür kämpfen wir.Und auf Nachfrage nach konkreten Vorstellungen solchen Engagements, etwa deutscher Truppen für die Kampfhandlungen im Süden Afghanistans, meint Kissinger, es sei nicht einsehbar, weshalb allein die USA für westliche Interessen Krieg führen sollten. Wenn der Westen dort keine Interessen habe, brauche er auch nicht zu kämpfen, habe er dort aber vitale Interessen, dann müssen wir dafür kämpfen. Wer das sieht, sei – solange er Teil einer Allianz ist – auch verpflichtet, dafür in den Krieg zu ziehen. Wir brauchen mehr deutsche Truppen und wir brauchen mehr Nato-Truppen in Afghanistan. Was nicht angeht, ist, dass eines der Nato-Länder seine Soldaten bevorzugt in Gegenden schickt, in denen nicht gekämpft wird. Das ist keine gesunde Situation.

Angesprochen darauf, ob er für die Position vieler Menschen in Deutschland, die auf Grund der deutschen Geschichte einer erneuten Kriegsbeteiligung Deutschlands nicht zustimmen wollen, Verständnis habe oder nicht, doppelt er nach, er verstünde es, aber die deutsche Position sei auf die Länge nicht haltbar: Wir können in der Nato langfristig nicht zwei Sorten von Mitgliedern haben. Die eine Sorte ist bereit zu kämpfen, die andere macht Allianz à la carte. Das funktioniert nicht.Wie die Deutschen zu einer neuen Sicht der Dinge zu bewegen wären, müssten die Deutschen schon selbst entscheiden. Sollten sie aber bei ihrer jetzigen Haltung bleiben, werde Deutschland in Europa nur eine Sonderrolle spielen. Inwiefern die deutsche und auch europäische Weigerung zur Beteiligung an den derzeitigen Militäreinsätzen nicht auch in einem tiefen Misstrauen gegenüber amerikanischen Supermachtsansprüchen wurzle, werde man sehen, wenn die neue amerikanische Regierung im Amt sei. Dann werde sich zeigen, ob die Fehler der Bush-Regierung lediglich Alibi oder tatsächlich der Grund für die europäisch-amerikanischen Differenzen gewesen seien. Zurzeit würden sich viele europäische Regierungen hinter dem ungeliebten Bush verstecken, was auf Grund von dessen Fehlern auch verständlich sei. Schon mit der nächsten Antwort auf die Frage nach den schwersten dieser Fehler macht Kissinger aber deutlich, dass er nicht die Stossrichtung von Bushs Politik kritisiert und sich an der Politik der USA auch unter einem neuen Präsidenten nichts ändern wird. Denn: Die Armee ging mit zuwenig Truppen in den Irak. Statt die irakische Armee einzubinden, habe man sie aufgelöst und die Beziehungen zu den Verbündeten und Freunden nicht richtig geführt. Andererseits halte ich Bush zugute, dass er die globale Herausforderung durch den radikalen Islam richtig eingeschätzt hat und den Krieg mit großer Tapferkeit führt. Er wird dafür später auch Anerkennung erfahren, und zwar nicht erst in einem halben Jahrhundert, sondern viel früher.Und darauf angesprochen, ob denn schon der nächste Präsident mehr europäische Einsatzfreude verlangen werde, lässt er offen, in welchem Sinne dieser Anspruch gestellt würde.

Ein nächster US-Präsident könnte sagen, dass auch die USA ohne europäische Unterstützung nicht weiterfahren könnten. Das könnte dann für die eigenen Abzugspläne als Argument genutzt werden.

Quellen:

Der Spiegel vom 18.2.2008, S. 110 ff.

http://www.zeit-fragen.ch/

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